SPD-Stammtisch zum Internationalen Frauentag

„Frauen in Ost und West – Ist die Mauer gefallen?“

Waren die Frauen in der DDR emanzipierter als die westdeutschen Frauen? Das könnte man meinen. Schließlich war die vollzeitliche Berufstätigkeit für die meisten ostdeutschen Frauen selbstverständlich. Ganztägige Kinderbetreuung wurde von staatlicher Seite organisiert, arbeitende Mütter waren gesellschaftlich akzeptiert. Ostdeutsche Frauen arbeiteten nicht nur in klassischen „Frauenberufen“, sondern auch als Kranführerinnen, Maschinenbauerinnen oder Ingenieurinnen. Im Westen Deutschlands sah das Bild zu dieser Zeit anders aus: Kindergärten, die nur bis mittags geöffnet hatten, gesellschaftlicher Druck auf Mütter, die arbeiten wollten oder mussten (Stichwort „Rabenmutter)“, Ehefrauen, die fürs Einkaufen Haushaltsgeld bekamen oder für eine Berufstätigkeit die Erlaubnis ihrer Ehemänner brauchten.

Waren die ostdeutschen Frauen also tatsächlich emanzipierter? Dass man sich in dieser Frage vor verkürzten Darstellungen und Klischees hüten sollte, erfuhren Anna Boulnois (DGB Mittelhessen) und Christina Müller (SPD Marburg-Biedenkopf) bei ihrem Besuch in Berlin am 3. März 2020. Eingeladen hatte die SPD-Bundestagsfraktion anlässlich des Internationalen Frauentages. Das Thema des Empfangs lautete: „Frauen in Ost und West – Ist die Mauer gefallen?“ Dazu waren aus dem gesamten Bundesgebiet gleichstellungspolitisch engagierte Frauen angereist. Auch einige Männer saßen im Publikum, darunter der frauenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sönke Rix, und Sören Bartol, Bundestagsabgeordneter des Landkreises Marburg-Biedenkopf.
Begrüßt wurden die Anwesenden vom SPD-Bundesfraktionsvorsitzenden Dr. Rolf Mützenich. Für seine Forderung, die wichtige Rolle der DDR-Frauen in der friedlichen Revolution stärker sichtbar zu machen, erhielt Mützenich viel Applaus. Auch eine andere Mitteilung wurde vom Publikum positiv aufgenommen: Die SPD-Bundestagsfraktion, so Mützenich, habe gerade einen Antrag beschlossen, wonach für die nächste Bundestagswahl nur Parteien zugelassen werden sollen, deren Landeslisten paritätisch besetzt sind. Sollte sich dieser Vorschlag durchsetzen, wäre das ein wichtiger, längst überfälliger Schritt auf dem Weg zur gleichberechtigten politischen Teilhabe von Frauen, deren Anteil mit 30 Prozent im jetzigen Bundestag niedriger liegt als in früheren Legislaturperioden.
Es folgte eine Diskussionsrunde mit hochkarätiger Besetzung: Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey (SPD), die sachsen-anhaltinische SPD-Bundestagsabgeordnete Katrin Budde, Dr. Michaela Fuchs vom Institut für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung und Jeannine Koch, Direktorin der Digitalkonferenz re:publica und Marketingleiterin der Internationalen Gartenausstellung in Berlin. Moderatorin der Veranstaltung war Tanja Brandes, Redakteurin der Berliner Zeitung und Co-Autorin des Buches „Ostfrauen verändern die Republik“ (Ch. Links Verlag, 2019).

Die Diskutantinnen unterzogen die Vorstellungen von der emanzipierten Ostfrau und der unterdrückten Westfrau einer kritischen Prüfung. Dass sich viele ostdeutsche Mütter nach Feierabend um Kinder, Haushalt und Pflege kümmern mussten und damit doppelt und dreifach belastet waren, verwundere nicht, wenn man bedenke, dass die ostdeutsche Gesellschaft nicht weniger patriarchalisch strukturiert war als die westdeutsche. Formale Gleichberechtigung, so wurde mehrfach betont, sei eben nicht gleichzusetzen mit Emanzipation. Andererseits habe es auch auf westdeutscher Seite Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung gegeben, berichteten die westdeutsch sozialisierten Podiumsteilnehmerinnen mit Beispielen aus ihren eigenen Biographien. Die Mauer, so der Konsens, verlaufe also weniger zwischen Ost- und Westfrauen als zwischen Frauen und Männern, und dies bezogen auf das gesamte Bundesgebiet. Durch den Ausbau der Kinderbetreuung und die Einführung des Elterngeldes sei in den letzten Jahren jedoch viel für die Einebnung dieser Unterschiede erreicht worden. Daran müsse festgehalten und weitergearbeitet werden, und zwar von beiden Geschlechtern: „Gleichstellung funktioniert immer nur in Partnerschaftlichkeit“, brachte es Franziska Giffey auf den Punkt.
Auf diese Formel einigte man sich auch am SPD-Frauenstammtisch im Rotkehlchen, bei dem Christina Müller von ihrer Berlin-Reise berichtete. Die Stammtischteilnehmerinnen erzählten von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Thema Gleichberechtigung. Es gebe immer noch Vorurteile gegenüber jungen Müttern, die bald nach der Geburt wieder arbeiten gehen, sagte Nina Bojan, Co-Vorsitzende der AsF Marburg-Biedenkopf: „Die wenigsten kommen auf die Idee, dass junge Väter genauso verantwortlich sind für den Nachwuchs wie die Mütter. Bei Männern wundert sich niemand, wenn sie nach zweimonatiger Elternzeit wieder arbeiten gehen. Stattdessen werden sie gelobt für ihre Fortschrittlichkeit.“ Angelika Löber, die Landtagsabgeordnete des Landkreises Marburg-Biedenkopf, berichtete den Stammtischgästen von den Problemen, ihre kommunalpolitische Tätigkeit mit den damals noch stark eingeschränkten Öffnungszeiten des Kindergartens zu vereinbaren: „Meine Kinder wurden immer als letzte abgeholt. Damals schlossen die Kindergärten um zwölf. Nur ausnahmsweise konnten die Kinder bis halb zwei bleiben. Für arbeitende Mütter was das schwer.“ Obwohl es um die Kinderbetreuung im Landkreis heute besser bestellt sei, so Löber, gebe es dennoch Ausbaubedarf, vor allem im ländlichen Raum: „Es gibt in der Kinderbetreuung ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Daran müssen wir unbedingt arbeiten.“

Der SPD-Frauenstammtisch trifft sich an jedem ersten Freitag des Monats um 19:30 Uhr im Rotkehlchen in der Waggonhalle. Auch die nächsten Stammtische werden sich mit frauenpolitischen Themen beschäftigen: Am 3. April wird Landrätin Kirsten Fründt (SPD) mit den Stammtischteilnehmerinnen über das Thema „Frauen in der Kommunalpolitik“ diskutieren. Ein weiterer Punkt auf der Stammtisch-Agenda ist das Thema Pflege und die aktuelle Diskussion um das UKGM. Am 2. Oktober werden die beiden Intendantinnen des HLTM, Carola Unser und Eva Lange, zum Stammtisch erwartet. Alle Frauen mit und ohne SPD-Mitgliedschaft sind herzlich eingeladen!