Unsere heutige Sitzung findet an einem der wichtigsten Gedenktage unserer Ge-schichte statt. Heute vor 68 Jahren ging der 2. Weltkrieg zu Ende mit der bedin-gungslosen Kapitulation und damit endete das so genannten Dritten Reich und ein Krieg, der in unvorstellbarer Weise Opfer forderte an denen noch heute Menschen zu leiden haben.
Der 8. Mai ist kein Feiertag und auch kein Tag zum Feiern. Aber es ist notwendig, auf die historische Dimension dieses Tages immer wieder neu und aktuell hinzuweisen. Geschichte, das wissen darf sich nicht wiederholen und deshalb ist es notwendig, die Lehren aus der Geschichte stets zu erinnern und nichts, aber auch gar nichts zu ver-drängen oder zu verschweigen. Von dem amerikanischen Philosophen und Schrift-steller George Santayana stammt der Satz: "Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.".
Daraus erwächst unsere demokratische Verpflichtung als Kreistag an diesen Tag zu Beginn der Sitzung zu erinnern und ich tue dies auch in ihrer aller Namen.
Dass der 8. Mai für die militärische Niederlage Deutschlands steht ist die eine Seite. Weitaus bedeutsamer in der gesellschaftlichen Bewertung ist aber, dass wir heute an die Befreiung vom Nationalsozialismus denken, der in zwölf Jahren unser Volk an den Rand des Untergangs gebracht hatte. Es brauchte lange Zeit, bis dieses in der Erinnerungskultur eine stärkere Bedeutung erhielt. Aber vielleicht mussten auch bei uns die Menschen lernen, sich den unbequemen Fragen zu stellen, die Schuld anzu-nehmen, darüber zu reden, um nicht zu vergessen, sondern aufzuarbeiten. Der An-lass zu einem historischen Paradigmenwechsel war die 1985 von dem damaligen Bundespräsident Richard von Weizsäcker im deutschen Bundestag gehaltenen Rede mit der Überschrift 8. Mai war ein Tag der Befreiung.
Er führte aus, dass der 8. Mai vor allem ein Tag des Erinnern ist, an das, was Men-schen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Deshalb Gedenken wir der Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft, wir geden-ken der Menschen in anderen Völkern, die ihr Leben verloren haben, wir gedenken der 6 Millionen Juden die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden, wir Gedenken aber auch unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Flucht und Vertrei-bung und Unfreiheit erleben mussten und unserer Soldaten, die auf den Schlachtfel-dern sterben mussten.
Vor zwei Tagen habe ich einen Brief des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsor-ge erhalten. Man hat seit Jahren in einem Ort im damaligen Ostpreußen versucht, das Grab meines Vaters zu finden, der im April 1945 dort ums Leben kam. Sterbliche Überreste die man fand konnten nicht zugeordnet werden sind nun auf einem Zubet-tungsfriedhof in Kaliningrad beigesetzt worden.
Aber nicht nur durch dieses persönliche Ereignis wird deutlich, wie nah der 8. Mai 1945 immer noch ist. Gestern fand eine Gedenkveranstaltung in Stadtallendorf statt. 25 Jahre besteht nun dort die Gedenkstätte Münchmühle zur Erinnerung an die Rassistische Ideologie der NS-Zeit und ihre Auswirkungen auf die Zwangsarbeite-rinnen und Zwangsarbeiter, die für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten muss-ten. Eva Pusztai aus Budapest, 88 Jahre alt und Überlebende berichtete in bewe-genden Worten über ihre Erlebnisse und wie sie all das verarbeiten konnte. Ihr Cre-do: Aufbrechen und nicht vergessen! Und ihr Fazit: Leben kann man nur in einer Demokratie.
Genau das ist unsere Herausforderung, wenn wir heute mit Bestürzung erfahren ha-ben, dass Rechtsradikale jahrelang mordend durch unser Land gezogen sind, dass Rechtsradikale ungeniert in der Öffentlichkeit, im Internet ihre rassistischen Parolen verbreiten. Wir dürfen nicht nur über Verbote nachdenken, wir müssen vielmehr in die Erinnerungsarbeit investieren, in die Bildungsarbeit, um die nachwachsende Ge-neration zu immunisieren.
In Marburg gibt es ein gutes Beispiel mit der Ausstellung in der Universitätsbibliothek zum Thema der Verflechtung der deutschen Justiz mit dem Nationalsozialismus. Im. April 1944, belegt die Kopie eines Urteils, hat der in Marburg tagende Strafsenat des Oberlandesgerichts Kassel einen Marburger Arbeiter zum Tode verurteilt wegen Zersetzung der Wehrkraft, weil er hatte sich fortgesetzt über einen ungünstigen Ausgang des Krieges geäußert.
Von solchen Urteilen und vielem mehr müssen wir wissen. Wir brauchen das Erin-nern, um nicht zu vergessen, wir brauchen das Erinnern, um unserer Zukunft willen.
Die Antwort auf den Nationalsozialismus war und ist das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 mit den klaren Aussagen zur Würde des Menschen, zur Gleichheit, zur Freiheit des Glaubens und Gewissens, zur Entfaltung der Persönlichkeit.
Wenn wir das Grundgesetz leben, dann vergessen wir auch nicht das, was wir aus der Geschichte lernen müssen. Wie hat Frau Pusztai gesagt? Leben kann man nur in einer Demokratie.